Munchmuseet, MM K 3258

MM K 3258, Munchmuseet. Ikke datert. Brev fra Gustav Schiefler.

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    1
Für Edvard Munch


    Die Schwestern
Eine Erzählung von Gustav Schiefle\r/


    Eva und Gertrud waren Zwillingsschwestern.
Sie hatten den ganzen Tag nähend und schnei-
dern gearbeitet; jetzt, am heissen Sommerabend,
gingen sie hinaus, um luft zu schöpfen. Sie
traten in ein Gartenreataurant, aus welchem
die rauschenden Klänge einer Orchestermusik
lockten. Nachdem sie einen Eiskaffee genommen,
spazierten sie auf dem Kieswegen, wo die
Bogenlampen merkwürdig scharf gerandete
Schatten der in leichtem Luftzuge bewegten
Blätter zeichneten. Eva plauderte unausge-
setztund machte Bemerkungen uber die jungen
Männer, die in Gruppen standen oder oder
gleichfalls zu zwei und zwei promenierten;
Gertrud war von der Arbeit, der sie eifriger
obgelegen haben mochte, ermüdet, schweigsam
und fast ein wenig reizbar. Plötzlich blieb

 

      
    2

ein junger mann der ihnen schon ein paar mal
begegh\gn/et war, vor ihnen stehen, lüfteste den
Hut und redete sie, sic\ch/ gleichzeitig \höflich/ entschul-
digend, mit einer Frage an, die, an sich
nichtssagend, doch genügte eine Unterhaltung
anzuknüpfen. Die drei gingen zusammen weiter\,/
und als die Mädchen gegen 11 Uhrerklärten, nac\h/
hause gehen zu wollen, hat er, sie auf den
Weg bringen zu dürfen. Seine Art zu sprechen
\g/efiel ihnen; sie hatte etwas Zurückhaltendes
und wurde doch durch einen zärtlichen Klang
der Stimme erwärmt. Er hatte die Unruhe in
Evas Blut erkannt und wagte, als sie vor der
Tür angelangt waren, die Frage, ob sie nicht
oben noch ein Stündchen verplaudern könnten.
Gertrud protestierte, aber Eva meinte, was
denn dabei sei, sie werde noch eine Tasse
Thee machen. So gingen sie zusammen die Trep-
pen hinauf. Die Schwestern bewohnten im drit-
ten Stock zwei Zimmer; die beiden anderen Ge-
lasse desselben Flurs standen unvermietet.
Alsbald summte der Kessel\,/ und man sass um den

 

      
    3

Tish, aber die Unterhaltung wollte nicht in
Fluss kommen. Die Situation drückte auf den
Kehlkopf; jeder sa mit unsicherer Spannung
dem entgegen, was nun werden würde.

    Da gab sich der junge Mann einen Ruck und
fragte Eva zwar leise aber kurz und bündig,
ob er die Nacht bei ihr bleiben dürfe. Die
spran\g/ blutübergossen auf, nahm die Schwester
in den Arm und sagte, indem sie ihr in die
Augen sah: „Wenn – wenn Sie nachher meine
Schwester auch – auch – lieb haben wollen.”

    Gertrud stand mit stockendem Athem und flie-
genden Pulsen; der Jüngling, der den Mund auf\-/
machte und in diesem Augenblick nicht gerade
intelligent aussah, blickte zu ihr hinüber
und bemerkte erst jetzt, dass sie viel schö-
ner war als Eva. Ihr Augen verfingen sich
für eine Sekunde; dann sagte er stotternd:
„Wenn Fräulein Gertrud will, – an mi\-/r
soll es nicht fehlen.” Gertrud aber setzte
sich an den Tisch, legteden Kopf auf die
Arme und schluchzte. Da wusste er genug

 

      
    4

    Eva schlich währenddem ins Nebenzimmer, wo
das zweischläferne Bett der Schwestern stand. Der
junge mann ging wartend und gelegentlich einen
bewunderten Blick auf Gertrud werfend auf und
ab, bis jene den Kopf durch die Türspalte steck-
te und ihm zunickte. Dann verschwand auch er,
und Gertrud blieb mit ihrem wühlenden Gedanken
 … 
und Sinnen zurück. Ihr zu voller Blüte entwickel-
ter Körper hatte, ohne dass sie wusste, nach
dem anderen Geschlecht geleczt. Nun schien es
ihr, als ein Riegel gesprengt, und sie w\a/r
entschlossen, sich zu geben. Ihr Blut drängte
diesem Manne engegen, den sie eben kennen ge-
lernt hatten, und der jetzt mit ihrer Schwe-
ster im Bett lag. Merkwürdig: nicht einmal ein
Gefühl der Eu\Ei/fersucht regte sich; sie wusste,
er gehörte ihr doch. Nach eine Viertelstunde,
gleichsam als sei ein Geschäft erledigt, traten
beide wieder ein. Eva, glücklich erregt, fiel
der Schwester um den Hals und flüsterte ihr zu;

 

      
    5

dann drängte und schob sie die Nachfolgerin der
Liebe in das Schlafengemach. Ihr Eifer entsprang
dem Wunsche, die Gewissenslast der verlorenen
Jungfernschaft nicht allein tragen zu müssen.
Gertrud bereitete\|/das Lager und sich\,/ ohne Ueber-
eilung\,/ mit einer sich selbst in Erstaunen se-
tzenden Ruhe, gleichsam zu einem heiligen Opfer
der Liebe. Dann legte sie sich nieder und war-
tete bis der Gatte kam. Leise trat er ein, und
sein Auge ruhte mit stiller Freude auf dem Ge-
sicht, das mit geschlossenen K\L/idern auf dem
Kissen lag. Sr beugte sich nieder und küsst\e/ sie;
da umschlangen auch ihre Arme den Nacken des
begehrten Manne\s/ und ihrer beider Lippen ver-
wühlten sich. Alser die Decke zurückschlug,
foremten sich ihm – unter dem ausgeschnittenen Hemd
– Brüst\e/ von der erdenkbar schönsten Bildung entge-
gen.Er bat, sie in der Hülle entledigen zu dürfen.
Dann entkleidete auch er sich wieder, und beide
genossen einander in stundenlanger seliger Umar-
mung. Eva, die erst ungeduldig werden wollte,

 

      
    6

musste sich bescheiden und schlief mit angezo-
genen Knieen unter einer Decke auf dem unbe-
quemen Sofa des Wohnzimmers.

    X
    Die Sinnesart der Schwestern, die sich hier
zum ersten Mal gegensätzlich erwiesen hatte, führ-
te sie verschiedene Wege. Zwar blieben sie bei
einander wohnen, aber es würde wünschenwert,
bald sogar notwendig, dass sie die Nachbarzimmer
dazu mieteten, damit jede ihr Reich für sich
hatte. Denn Eva, die alsbald Bekanntschaft mit
offizieren machte, wurde das, was man eine
Leutnantshure nennt, während Gertrud ihrem Fritz
trau blieb. Dieser war, wie sich herausstellte,
ein Jurist, der nach beendetem Studium in den
Anfängen seiner praktischen Ausbildung stand und
gleichzeitig seine Doktorarbeit machte. Da er
deshalb mit seiner Zeit zu Rate gehen musste,
liess er sich nur selten im Kreise der übrigen
jungen Männer sehen, welcher die Offiziere, Re-
ferendare und einige unverheiratete Aertze ver-
einigte. Zudem stattete er Gertrud, die nicht

 

      
    7

nur seine Geschlechts-, sondern eine wahre Her-
zenfreundin wurd\e/, zwei bis dreimal wöchentlich
einen Besuch ab. Schon hatte es bei den Kneip-
kumpanen Stichelreden gesetzt: man nannte ihn
wegen seiner nacherlei literarischen und künst-
lerischen Interessen einen „geistigen Krösus”\,/
und eine gereizte Stimmung fing an\,/ gegen ihn Platz
zu greifen. Von seinem Verhältnis zu Gertrud
wusste niemand, denn Eva, welche der Schwester
ihr Glück gönnte, hielt reinen Mund. Gertrud
hatte die neuen Zimmer bezogen. Diese lagen zwar
auf dem gleichen, vom Treppenhause abgeschlos-
sennen Flur; da sie aber ihren besonderen Ein-
gang vom Vorplatz hatten, war Eva bei den Be-
suchen die sie empfing, nicht geniert. Sie wurde
ein eigenwilliges und verwöhntes kleines Persön-
chen, das sie nicht scheute, ihre Launen an
den Liebhabern auszulassen. Eines Nachmittags
lag sie, weil sie sich nicht wohl fühlte, im
Bett, als Gertrud zu ihr hereinkam und fragte,
ob sie etwas in der Stadt zu besorgen habe;

 

      
    8

sie wolle etwas an die Luft gehen. Kaum war sie
fort, als es klopfte und auf das\Eva’s/ „Herein!” eer-
schien einer ihrer\der/ offizierlichen Galane, ein
Leutnant, dem seine Kameraden den Spitznamen
Achilles gegeben hatten. Der war der Bevorzugte
unter ihren Freunden; er genoss die Gunst, dass
er mittels eines ihm eingehändigten Etagen-
schlüssels ohne läuten zu müssen, sich Eingang
schaffen konnte. Er machte es sich in gewohnter
Weise be\q/uem, zog die Stiefel aus und entledigte \sich/
seines Beinkleides. Eva protestierte: sie wolle
heute nicht. da sprang er beleidigt auf, und wie
er so dastand, mit seinem langen martialisch
gestrichennen Schnurrbart, im Waffenrock – denn
er kam geradeunterwegs vom Dienst – und auf den in
der weissen Unterhose sehr dünn erscheineden
Beinen, machte er eine unsagbar komische Figur,
sodass Eva in ein helles Gelächter ausbrach.
Er beruhigte sich erst, als sie ihn versicherte,
ihre Absage beruhe auf höherer Gewalt, er müsse
sich fügen. Nun fragte erwe den das hübschC

 

      
    9

Mädchen gewesen sei, mit dem er sie neulich
auf der Strasse gesehen „Ihre Schwester.” Wo
die denn wohne, forschte er mit plumpen Drauf-
gängertum weiter. „Hier nebenan”, lächelte sie.
Ob er sie nicht besuchen könne? Eva, die ja
wusste, dass Gertrud nicht daheim war, erwiederte,
er könne es ja versuchen. Da stieg er wieder in
Hose und Stiefel und verabschiedete sich kurz.

    Nun war inzwischen etwas pa\s/siert, was
Eva über ihre Unterhaltung mit Achilles nicht
bemerkt hatte: Gertrud war sogleich zurückge-
kehrt. Sie hatte unten Fritz getroffen, der mit
ihr heraufgestiegen war, um ein neulich vergesse-
nes Buch zu holen. Gerade in dem Augenblicke,
als Achilles klopfen wollte, öffnete Fritz die
Tür, um fortzugehen. „Ach, mein Lieber” nä-
selte Achilles, „sehen Sie, mein Lieber, also
deswegen sind Sie ein so seltener Gast an unserer
Tafelrunde.” Fritz, der sogleich die Türwieder
schliessen wollte, wurde von jenem daran gehin-
dert: „Nun nun, man wird doch eintreten dürfen”

 

      
    10

„Ich glaube kaum”, erwiderte Fritz in möglichst
verbindlichen Ton. Der andere versuchte mit den
Worten: „Aber erlauben Sie, wenn Sie hier ein\-/
und ausgehen, wird es mir doch auch gestattet
sein”, sich hineinzudrängen \D/a riss Fritz die
Geduld; er fasste den Leutnant vor die Brust und
stiess ihn – heftiger als es seine Absicht war –
zurück, sodass dieser ausgleitend zu Boden fiel.
Fritz verriegelte die Tür und wartete, bis Achil-
les abgestrollt war. Am Abend bereits stellte
sich der Kartellträger ein. Das Pistolenduell
wurde für den anderen frühen Morgen verabredet,
und als die Sonne aufging, lag Fritz, zu Tode
getroffen, auf dem Rasen.

    X
    Gertrud, die auf Umwegen von dem Ausgang
des Zweikampfes erfuhr, war in ihren tiefsten
Tiefen erschüttert. Ihr schien, als sei ein
dichter Vorhang zwischen ihr und der Welt nie-
dergefallen, oder als süsse sie in einem Ge-
strüpp von Dornen, sodass jede Bewegung auch nur

 

      
    11

der Gedanken wehe tat. Fre‹f›\i/lich, als eine gewisse
Beruhigung kam, sagte sie sich, einmal habe
das Verhältnis doch auf die eine oder andere
Weise einen schmerzlichen Abschluss finden
müssen, und so nahm nach und nach das Leben
wieder von ihr Besitz. Sie suchte in der Arbeit
Ablenkung und fand dabei in Eva eine Partnerin.
Denn weil die Offiziere, die ihre ausschliess-
liche Kundeschaft waren, jetzt das Haus mieden
sah auch sie sich wieder auf iherer Hände Arbeit
abg angewiesen. Einige monate nach Fritzens Tode
machte ein Freundespaa\r,/ die sich Alex und Heinz
nannten, die Bekanntschaft der schwestern. Eva
und Alex waren bald mit einander einig, und sie
erlaubte ihm, manche Nacht bei ihr zuzubringen.Gr
Gertrud aber, immer noch ernst und schweigsam,
hielt den anderen in angemessener Entfer nung.\,/
obwohl er ihr nicht misfiel: eine gewisse äus-
sere Aehnlichkeit mit Fritz kam ihm zu statten.
An einen Sonntag des frühen Frühlings hatten die
vier verabredet, mit einander zu Mittag zu essen;
nun war es drei Uhr vorüber, der Kellner räumte

 

      
    12

den Tisch ab und man beratschlaf\g/te, was weiter
unternommen werden solle. Eva und Alex wollten
zunächst bei einer Freundin einen kurzen Besuch
machen; Heinz musst\e/ eine Arbeit, die er am Morgen
beendet, abliefern; Gertrud wollte ihn auf den
Weg bringen und\,/ bis alle – etwa nach einer Stunde
– sich wieder im gleichen Restaurant träfen, bei
dem schönen Wetter in den nahen Anlagen sich
ergehen. Da fiel ihr ein, eben als Heinz sie
verlassen, dass sie einen Brief, der zur Post
sollte, in ihrer nicht weit entfernten Wohnung
habe liegen lassen, und sie machte sich auf, ihn
zu holen. Die Strassen waren verödet, denn alle
Welt nutzte den ersten schönen Tag, um ins
Freie zu kommen. Auch das Haus machte in seiner
Einsamkeit, als sie die Treppen hinaufstieg und
ihre Tritte schallen hörte, einen beinahe schauer-
lichen Eindruck. Sie wunderte sich, die Etagentür
nicht verschlossen zu finden: Eva musste das wohl
vergessenhaben. als sie in deren Zimmer \t/rat
wo der Brief lag, prallte sie zurück: Achilles,,
der Leutnant, stand ihr gegenüber. Der war von

 

      
    13

der Leutnant, stand ihr gegenüber. Dwe Der war
von einem sogenannten Liebesmahle gekommen, hatte
sich erinnert, immer noch Evas Schlüssel zu be-
sitzen und war heraufgestiegen in der Hoffnung,
einmal wieder ein reizende Schäferstündchen zu
geniessen. Beide wussten zuerst n zunächst
nichts zu sagen. Der Mann fasste sich jedoch und
sprach einige Worte des Bedauers wegen der Unge-
legenheiten, die den Schwestern in Folge des
Duells entstanden seien. Gertrud setzte sich auf
einen Stuhl und schlu\ch/zte. Erst jetzt, als er ihre
Fassun\g/slosigkeit sah, begann er zu ahnen, dass
zwischen ihr und des Getöteten in inniges Ver-
hältnis bestanden habe. Da er im Grunde ein gut-
trunkenhatte, erfasste ihn ein weiches Mitgefühl,
und er versuchte, das Mädchen zu trösten, indem
er ihre Hand ergriff und sie streichelte. Sie
selbst wunderte sich, dass sie es geschehen
liess. Ja, sie wehrte sich nicht einmal, als er
den Arm um ihre Schulter legte. Und dann über-

 

      
    14

kam sie eine unbegreifliche Aufwallung des Ge-
fühls: die Sinne, die monatelang unter dem Banne
eines Drucks gestanden, bäumten sich, durch die
Gemütsbewegung angestachelt., in überwältigender
Stärke. Als er sie an sich zog und küsste, erwi-
derte sie den Kuss mit glühender Leidenschaflich-
keit. Er wollte sie in das\Eva’s/ Schk\l/afzimmer führen;
sie liess ihn vorangehen und versprach zu folgen.
In ihrem eigenen Gemach entkleidete sie sich und
trat zu ihm in der ganzen Majestät ihrer nackten
Schönheit. Als er, der sich gleichfalls ausgezo-
gen hatte, sie sah, sprang er auf, riss sie
zu sich und stürzte wie ein wildes Tier über sie.
Aber alsbald überfiel ihn\sank über ihn/; in Folge des genossenen
Weines, eine Erschlaffung \herab/\,/ und er schlief an ihrer
Seite ein. Er begann sich zu strecken, schnarch-
te und breitete seinen Körper auf dem Lager so
aus, dass er sie fast hinausdrängte. Wie sie ihn
so neben sich sah.\,/ überfiel sie die Ernüchterung;
ein grosser Ekel stieg in ihr auf, der sie würgte;
sie schämte sich, und aus beiden Gefühlen schlug
ein hellodernder Zorn das Tier empor,

 

      
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dem sie Gewalt über sich gegeben, dem sie einen
Anteil an ihrer Schönheit eingeräumt hatte.
Sie erhob sich, wo, wie sie wusste, ein dolchartiges
Messer lag, nahe dies, betrachtete einen Augen-
blick die athmende Brust des Schläfers und stiess
ihm das Messer bis an das Heft in das Herz. Ein
kurzes Röcheln, dann war er ein stiller Mann. Aus
der Wunde trat kein Blut, so fest war sie durch
das Heft verschlossen. Gertrud aber stend hoch
aufgerichtet neben dem Bett, die Arme mit ge-
schlossenen Händen hängen lassend\,/ und den Blick
der grosssen\|/Augen in die Ferne gerichtet. So dachte
sie nach was nun geschehen müsse. Sollte sie
sich der Behörde stellen? Nein! sie wollte dC\e/m
Publikum kein Schauspiel gönnen. Es galt also, die
Gedanken zusammenzunehmen. Mit kurzem Blick sah
sie noch, wie dem Mann ein schaumiges Blut aus
Mund und Nase quoll. Dann ging sie in ihr Zimmer,
wusch sich und kleidete sich schnell ebenso an

 

      
    16

wie sie gekommen war. Als sie die Wohnung ver-
liess, schoss es ihr blitzartig durch den Kopf,
sie dürfe sie nicht vers\c/hliessen. Das Haus lag
still und tot wie vorher; auch die Strasse war
wie ausgestorben: niemand begenete ihr. So kam
sie durch die Anlagen, stracks doch nicht über-
eilig gehend, in das Gasthaus. Ein Blick auf die
Uhr überzeugte sie, dass kaum ein\e/ Stunde vergangen,
seit sie von hier aufgebrochen waren. Sie setzte
sich wieder an denselben Tisch und bestellte
eine Tasse Kaffee. Nach etwa zehn Minuten kamen
Eva und Alex. „Ihr habt mich aber schön lange
warten lassen”, sagte sie und zum Kellner ge-
wandt, der beidenen wollte, fügte sie hinzu:
„Ich sitze doch schon eine halbe Stunde hier
allein!?” Der bestätigte das bereitwillig. Nach
einiger Zeit kam auch Heinz, und jeder trank
mehrere Tassen. Dass Gertrud ernst und blass war,
fiel niemandem auf: es war auch sonst ihre Art.
Sie schien sogar heute etwas aufgeräumter; der
Genuss des Kaffees brachte Nerven und Blut

 

      
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Wallung. Man machte einen grösseren Spaziergang
und kehrte zum Abendessen abernals in das bekann-
te Gasthaus zurück. Evchen klatschte in die Hände,
als Gertrud auch Heinz erlaubte, mit in die Wohnun
nung hinaufzukomme\n./ Sie würde ärgerlich, als sich
der Schlüssel drehen wollte und äusserte
Verdacht\,/ Diebe möchten versucht haben, einzu-
brechen. Als sich dann ergab, dass die Tür un-
verschlossen war, weinte Gertrud:„ Du wirst
es vergessen haben.” Aber Eva war ihrer Sache
sicher. Da dachte sie an Achilles: sollte er
einmal wieder hier gewesen sein? Im Zimmer lag
ein leichter Tabaksrauch: der Leutnant hatte,
ehe Gertrud kam, eine Zigarette angezündet. Die
Schwestern tauschten auch über diesen Duft einige
verwunderte Worte. Dabei schlüpfte Eva in ihr
Schlafzimmer. Auf der Schwelle stiess sie einen
entsetzten Schrei aus und taumelte zurück; Alex
fing die Sinkende auf. Die beiden Männer drangen,
von Gertrud gefolgt, ein und sahen das gräsliche
Bild: Bett und Leiche schwammen im Blute;

 

      
    18

Messer musste sich alsbald gelockert haben. Auch
Gertrud, die bis dahin die Kraft ihrer Rolle be-
wahrt hatte, fiel in Ohnmacht. Die Männer waren
um die Mädchen bemüht; Z\E/va bekam einen Schrei-
krampf, Gertrud wurde in ihrem Zimmer auf das
Bett gelegt und einstweilen sich selbst überlas-
sen. Die Männer beratschlagten und beschlossen,
Heinz solle sogleich bei der polizei Anzeige
erstatten. Als die Beamten kamen, lag Eva in
eineim tiefen Schlaf. Gertrud war schon seit einer
Weile zum Bewusstsein gekommen, hatte ihre Gedan-
ken gesammelt und fühlte sich Herr ihres Willens.
Bei ihrer vernehmung gab sie an, sie wisse von
nichts; mittags sei sie sie mit der Schwes\t/er
fortgegangen, um mit den Freunden zu speisen; sie
sei den ganzen Tag mit allen zusammen gewesen, bis
auf die halbe Stunde zwischen dem gemeinsamen
Aufbruch aus dem Gasthaus und ihrer Rückkehr dahin;
in dieser halben Stunde haben sie zunächst Herrn
Heinz Bardenwerfer begleite\t/ und sei dann noch gut
eine Viertelstunde in den Anlagen spazieren ge-
gangen. Diese sowohl wie die Aussagen der andere\n/

 

      
    19

drei, welche das von Gertrud bekundete zum
grössten Teil bestätigten, schien den Kommissaren
glaubhaft. Dennoch erklärten sie, es sei ihre
Pflicht, alle vier mit zur Wache zu nehemen und
die Wohnung zu versiegeln. Die Untersuchung wurde
mit grössten Eifer geführt; auch das wurde ge-
prüft, ob sich am Körper oder in der Wäsche der
Mädchen Spuren männlichen Samens der Art fänden,
wie sie zwischen dem Blut im Bett noch eben fest-
zustellen waren. Eva, auf die sich der erste
Verdacht richtete, weil der Tote in ihrem Bette
lag, wermochte sich schnell durch einen lücken-
losen Alibi-Beweis zu reinigen. Denn ehe die
die beiden Mädchen Mittags das Haus verlassen, waren
sie mit der Hauswirtin in einem Gespräch gewes-
sen die nachher aufgeräumt und alle Zimmer in
bester Ordnung gefunden hatte. . Gertruds Lage
war weniger gü\n/stig: nicht nur jene Zwischenzeit.\,/
liess Zweifeln Raum; auch die Verflachtung ihres
Verhältnisses zu Fritz – obwohl darüber nichts

 

      
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Bestimmtes in die Offentlichkeit gedrungen war –
mit der Tatsache des Duells, in welches jener
der Opfer des jetzt Ermordeten geworden war, konnte
den Verdacht eines raffinierten Racheakts erwe-
cken. Aber das alles blieben Vermutungen. Denn
Gertruds Angaben über jene halbe Stunde – die
in Wirklichkeit eine ganze gewesen war – ,fanden
doch auch ihre Bekräftigung: der Kellner des Gast-
hauses\|/erinnerte sich des Gesprächs, als Gertrud
der Schwester ihr spätes Kommen vorgehalten, und
irgend jemand fand sich, der tatsächlich des
Mädchen an jenem\|/Sonntagnachmittag allein in den
Anlagen hatte gehen sehen. Zudem blieben manche
andere Möglichkeiten; einige versteiften sich
darauf, der Leutnant werde den Besitz des Schlüs-
sels und die Abwesenheit Evas benutzt haben, um
mit einer Dirne dort zu verkehren, die ihn dann
umgebracht habe. Es kam zwar zu einer Hauptver-
handlung gegen Gertrud vor der Schwurgericht,

 

      
    21

aber der Staatsanwalt beantragte ihre
Freisprechung. So war es ihr dennoch nicht er-
spart geblieben, dem Publikum ein schauspiel
zu werden, aber sie verliess, zwar bleich, doch
erhobenen hau\p/tes den Gerichtssal.

    X
    Die Schwestern lebten ferner zusammen. Nach
einigen Monaten indessen heiratete Eva ihren Alex
und Gertrud blieb einsam zurück. Zwei Jahre
hielt sie es in emsiger Arbeit aus. Dann erinnerte
sie sich dass sie katolisch getauft war, und
trat in ein Kloster ein. Sie vermochte die Last
ihres Wissens nicht länger zu tragen und warf
sie in der Beichte ab. Sie lebte den Werken der
Liebestätigkeit und galt alsbald als eine Art
Heilige. Wenn sich Anfechtungen nahten und die
Traurigkeit sie überfiel, dass ihr immer noch
herrlicher Leib niemanden zur Freude verblühe,
dann rief sie sich den Anblick der von Blut be-
sudelten Leich zurück und tröstete sich gleich-

 

      
    22

sam mit dem Vorwurf, dass jeder, der ihre Liebe
genossen, eines jähen Tode verfallen sei.